Anja Sauerer macht sich Gedanken über Traumapädagogik
Fast jeden Monat schreiben Projektträger zu einem bestimmten Stichwort. Im Mai macht sich Anja Sauerer vom Antonia-Werr-Zentrum Gedanken über Traumapädagogik.

Hey, ich bin normal! Das Konzept des guten und gewichtigen Grundes
In unserer Gesellschaft wird immer deutlicher, wie wichtig es ist, Menschen mit traumatischen Erfahrungen liebevoll und verständnisvoll zu begleiten.
Die Traumapädagogik bietet dabei einen heilsamen Ansatz, der auf Respekt, Sicherheit und Akzeptanz basiert. Ein zentrales Element darin ist das Konzept des "guten und gewichtigen Grundes" – die Überzeugung, dass jeder Mensch "normal" ist und auf seine eigene Weise auf die Lebensumstände reagiert, also normal auf unnormale Lebensumstände. Dieses "Ich bin normal und reagiere auf unnormale Lebensverhältnisse" stärkt das Selbstwertgefühl und das Selbstvertrauen. Es erinnert uns daran, dass unsere Reaktionen, Gefühle und Verhaltensweisen verständlich sind, weil sie individuell–persönliche, eben normale Antworten auf Erfahrungen sind, die wir gemacht haben.
Im Antonia-Werr-Zentrum arbeiten wir auf der Basis eines traumapädagogischen Konzepts: Die uns anvertrauten Mädchen und jungen Frauen bringen belastende Biographien, verbunden mit erlebten Traumata mit sich. Wir wissen um die Folgen von Traumata, würdigen die Überlebensleistung der Heranwachsenden und legen unseren Fokus auf ihre Stärken und Ressourcen.

Wir verstehen das „unnormale" Verhalten unserer Mädchen und junge Frauen als lebensgeschichtlich logisch und betrachten sie deshalb als Expertinnen für herausfordernde Lebensumstände. Anita ist eine dieser Expertinnen. In der Auseinandersetzung mit ihrer Biographie hat sie erkannt, dass sie „eigentlich“ normal auf unnormale Lebensverhältnisse reagiert hat. Daraus wurde: „Hey, ich bin normal“, ein Buch von Expertinnen für herausfordernde Lebensumstände, erschienen im Beltz Juventa Verlag.
Diesem Erkenntnisprozess geht zuallererst die Beziehungsgestaltung voraus. Und so sind es nicht nur die jungen Menschen, die sich anvertrauen, sondern es braucht ebenso Pädagoginnen und Pädagogen, die sich in einer gewissen Hingabe und Bereitschaft in diese Beziehung begeben, bei der auch die eigene Verletzlichkeit in Resonanz und Schwingung gebracht werden kann.

Grundlegend für die traumapädagogisch basierte Beziehungsgestaltung ist die „Annahme des guten und gewichtigen Grundes“. Alles, was ein Mensch zeigt, macht Sinn in seiner Geschichte!
Für die Mädchen und jungen Frauen war es unter ihren „unnormalen“ Lebensumständen normal, dementsprechende Verhaltensweisen zu zeigen. Dies ist erst einmal grundsätzlich zu würdigen. Deshalb braucht es Zeit und Geduld, damit diese Überlebenskünstlerinnen erfahren und erkennen können, dass ihre bisherigen Strategien nicht mehr hilfreich sind.
Traumapädagogik setzt genau hier an: Sie würdigt die individuelle Geschichte und schafft einen möglichst sicheren Raum, in dem Betroffene ihre Erfahrungen (mit)teilen können, ohne verurteilt zu werden. Das Ziel ist, die eigene Geschichte zu verstehen, anzunehmen und neue Wege des Umgangs zu entwickeln.
Im Rahmen unseres Buchprojektes „Hey, ich bin normal“, in dem sich unsere Mädchen und jungen Frauen als Expertinnen für herausfordernde Lebensumstände mit diesen Themen intensiv auseinandergesetzt haben, entstanden viele heilsame Prozesse.
Ihr eigenes Erfahrungswissen erweiterte sich zum Expertenwissen. Auf diese Weise „herausgelöst“, wurde es zur Expertise und war nicht mehr unmittelbar so schmerzhaft mit den eigenen Traumata verbunden.
Kurz gesagt: Jeder Mensch ist "normal" – mit all seinen Reaktionen und Gefühlen. Und jeder ist und bleibt Expertin und Experte für sein eigenes Leben.

Meldung erstellt am: 14. April 2025